
Molly (Elle Fanning) steht beruflich im Moment ordentlich unter Strom, muss sich in letzter Zeit aber vor allem um ihren Vater Leo (Javier Bardem) kümmern. Der lebt in einer heruntergekommenen Wohnung direkt unter den New Yorker U-Bahn-Gleisen und ist auf fremde Hilfe angewiesen. Seit einiger Zeit schon liegt er fast nur noch im Bett, nuschelt vor hin und wirkt geistig zutiefst verwirrt. Nicht mal den Namen seiner Tochter kennt der innerlich zerrüttete Mitt-Fünfziger. Gedanklich durchwandert Leo, der nur noch in seiner eigenen Welt lebt, wichtige Stationen seines Lebens: Als er seine große Liebe Dolores in Mexiko kennenlernte oder er auf einer abseits gelegenen, griechischen Insel ein entbehrungsreiches Leben als Schriftsteller führte.
Die für ihre feministischen Filme und Anliegen bekannte britische Regisseurin und Autorin Sally Potter kehrt drei Jahre nach ihrem gefeierten Ensemble-Film „The Party“ in die europäischen Kinos zurück. Weltpremiere feierte ihr stargespickter Film „The roads not taken“ (in Nebenrollen unter anderem zu sehen: Laura Linney und Salma Hayek) auf der diesjährigen Berlinale. Dort war das esoterisch angehauchte Drama offizieller Teil des Wettbewerbs. Für Potter war es die dritte Teilnahme am Berlinale-Wettbewerb.
„The roads not taken“ ist ein Film, der weit mehr Fragen hinterlässt als er beantwortet. Das beginnt bereits damit, dass Potter den Grund für Leos desolaten Gesundheitszustand nicht offenlegt. Weite Teil des Films verbringt Hauptdarsteller Bardem im Liegen, schweigend und in sich gekehrt. Sprechen kann er nicht, einzig zu unverständlichen Grunzlauten ist er in der Lage. Das erschwert nicht nur die Kommunikation mit der (überbesorgten) und von Elle Fanning allzu überzogen emotional dargestellten Tochter, sondern macht es auch für den Zuschauer nicht leicht, der Hauptfigur empathisch und verständnisvoll gegenüberzutreten. Seit wann befindet sich Leo in diesem Zustand geistiger Umnachtung? Was ist wann mit ihm passiert? Man erfährt es schlicht nicht.
„The roads not taken“ lebt von seiner Vermengung und dem Ineinanderfließen der unterschiedlichen Zeitebenen. Zwischen drei Zeiten springt Potter hin und her: Der Gegenwartshandlung (die zum Beispiel aus langweiligen Arztbesuchen von Leo besteht), einem in der Vergangenheit angesiedelten Nebenstrang, der Leo als allein auf einer Insel lebenden Schriftsteller zeigt. Und einem noch weiter zurückliegenden, früheren Leben, das die Anfänge von Leos großer Liebe zu Dolores zeigt. Die geschickte Montage einzelner, technisch herausragend aneinandergereihter Szenen und Sequenz-Abfolgen lässt die verschiedenen zeitlichen Ebenen unmittelbar miteinander kulminieren und erzeugt eine ganz eigene Dramaturgie.
Darüber hinaus aber findet man nur schwer einen Zugang zu den handelnden Figuren, der Vielfalt an Themen (Trauerbewältigung, Schicksal, Identitätssuche, Liebe) sowie der Kernbotschaft des insgesamt zu sperrig geratenen Films: das Bereuen (oder vielmehr: Infrage stellen) gewählter Lebenswege und getroffener Entscheidungen. Nicht zuletzt deshalb, da Potter ihr Werk mit bedeutungsschwangerer, übertrieben pathetischer Musik sowie sinnfreien Dialogen aufbläht und so in kitschige Gefilde abdriften lässt.
Fazit: Ebenso formelhafter wie verworrener Film über die zentralen Themen des Lebens, der jedoch zu viele Aspekte und Fragen unbeantwortet lässt und lediglich mit seiner technisch sowie dramaturgisch tadellosen Schnittarbeit überzeugen kann.
Bewertung: 4/10
Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.