Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien Kritik

Christoph Schlingensief, der 2010 nach zweijährigem Kampf gegen den Krebs im Alter von nur 49 Jahren starb, galt als künstlerisches Wunderkind. Schon in seinen frühen 20ern lehrte er an der Düsseldorfer Kunstakademie, mit Mitte 20 war er Aufnahmeleiter einer der erfolgreichsten Seifenopern der 80er-Jahren („Lindenstraße“). Bekanntheit als Filmemacher erlangte er mit seiner „Deutschlandtrilogie“: „100 Jahre Adolf Hitler“, „Das deutsche Kettensägenmassaker“ und „Terror 2000“. Ab 1995 etablierte er sich als von der Kritik gefeierter Opern- und Theater-Regisseur („Hamlet“, „Parsifal“) und inszenierte an einigen der renommiertesten Häuser im deutschsprachigen Raum (Volksbühne Berlin, Schauspielhaus Zürich, Wiener Burgtheater u.a.).

In Bettina Böhlers „Montage-Film“ darf Christoph Schlingensief, fraglos einer der fähigsten aber auch streitbarsten deutschsprachigen Künstler der jüngeren Vergangenheit, über sich selbst berichten. Zumindest entsteht in „In das Schweigen hineinschreien“ ein solcher Eindruck. Denn zwischen all die Szenen aus Kinofilmen, Theateraufführungen und bizarren Protestaktionen, montiert sie sehr oft Aufnahmen von Schlingensief selbst, wie er über sein Leben und Werk spricht und dieses reflektiert. Etwa in Talk- oder Late-Night-Shows.

Er tut dies nicht, weil er in hohem Maße Narzisst oder selbstsüchtig wäre, sondern weil er letztlich dann doch meist mit den immer gleichen Fragen konfrontiert wurde: Geht es ihm um das Kunstwerk oder um Brüskierung und Provokation? Was möchte er mit seinen Aktionen eigentlich ausdrücken, was ist die Botschaft? Niemand vermag besser Antworten auf diese generischen Fragen zu geben als der ebenso gefeierte wie verhasste Porträtierte selbst.

Endgültige Antworten spart Böhler, die für einige Werke Schlingensiefs den Schnitt übernahm, bewusst aus. Das zwingt den Zuschauer dazu, sich ein eigenes Bild zu machen und konzentriert zu folgen. Informierende, hintergründige Off-Kommentare fehlen ebenso wie einordnende Gespräche mit Weggefährten, Kollegen oder Familienmitgliedern. Das tut dem Film sehr gut und sorgt für Abwechslung, denn jene Elemente und Stilmittel sind Bestandteil eines – gefühlt – jeden dokumentarischen Porträts über (verstorbene) Künstler und wirken schnell ermüdend.

Stattdessen nehmen die Archivaufnahmen der politischen Aktionen Schlingensiefs‘ eine zentrale Stellung ein. Böhler lässt also die Bilder und Kunst des großen Exzentrikers für sich sprechen. Man sieht den studierten Kunstgeschichtler und Philosophen 1998, wie er mit seiner Partei „Chance 2000“ in den deutschen Bundestagswahlkampf zog. Ein Jahr zuvor hatte er zur Ermordung Helmut Kohls aufgerufen. Im Jahr 20000 stellte er mitten in Wien einen Container mit Asylbewerben auf. Die Zuschauer auf den heimischen Sofas konnten, ganz in Big-Brother-Manier, durch Wählen bestimmen, wer den Container verlassen musste. Und damit das Land.

All diese, sehr temporeich aneinandergereihten Aufnahmen verdeutlichen eindrucksvoll Schlingensiefs Kunst- und Selbstverständnis: Mit absichtlicher und bewusst überzogener Persiflage und Brachialsatire der Gesellschaft (und vor allem dem Spießbürgertum) den Spiegel vorzuhalten. Und, wie er in einer Talkshow sagt, „Obsession“ für das eigene Tun und Handeln an den Tag zu legen. Dies war er, egal ob öffentlicher Auftritt oder Premierenfeier, nicht Müde zu betonen.

Fazit: Herausfordernde, klug montierte Reise durch das gewaltige künstlerische Erbe eines hitzigen, provokanten Ausnahmeregisseurs. Editorin Bettina Böhler verzichtet in ihrem Porträt auf Verklärungen und pathetische Lobeshymnen, sondern lässt ihren Protagonisten zwei Stunden lang in erster Linie selbst zu Wort kommen.

Bewertung: 8/10

Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.

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2 Kommentare

  1. Ich empfehle auch: „Die Angst vor dem Fremden in mir“ und „Scheitern als Chance“. Tolle Filme über eine Ausnahmetalent

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