Hannibal Rising

Mit der Figur des Hannibal Lecter erschuf der US-Autor Thomas Harris nicht einfach eine weitere Romanfigur, sondern eine Ikone der Popkultur, die praktisch jedem Menschen geläufig ist. Nach dem überwältigenden Erfolg von „Das Schweigen der Lämmer“ durfte es nicht überraschen, dass die Cash-Cow Lecter weiterhin kräftig gemolken wurde. Folglich durfte der hyperintelligente Gourmet und Psychologe im Jahr 2007 bereits zum insgesamt fünften Mal seine etwas eigenwilligen Therapien zelebrieren.

Ob „Hannibal Rising“ auch ohne Anthony Hopkins in dessen Paraderolle überzeugen kann, erfahrt ihr in nachfolgender Kritik, die von Jugendlichen nur in Begleitung ihrer Eltern gelesen werden sollte.

Kinderliebende Kollaborateure
1944 ist der Krieg im Osten für die Wehrmacht, die sich nur noch auf dem Rückzug befindet, längst verloren. Unaufhaltsam drängt die Rote Armee die Invasoren immer weiter zurück. Auch das kleine Litauen bleibt vom Krieg nicht verschont und gerät ins Visier der bitter einander bekämpfenden Armeen. Als das Schloss der alteingesessenen Lecters von Truppen der Wehrmacht besetzt wird, muss die Familie in eine abgelegene Jagdhütte fliehen.

Doch selbst dort holen sie die Schrecken des Krieges ein: Bei einem deutschen Angriff auf russische Truppen werden Hannibal Lecters Eltern getötet. Nun sind Hannibal (Aaron Thomas) und seine kleine Schwester Mischa völlig auf sich selbst gestellt. Kurz nach dem Tod ihrer Eltern gelangten Nazi-Kollaborateure zu der Jagdhütte, übernehmen diese und halten die beiden überlebenden Lecter-Kinder gefangen.

Im harten Winter findet sich für die Männer immer weniger Nahrung. Im Angesicht des Hungertodes entschließen sie sich, auf eines der Kinder zurückzugreifen. Die Wahl fällt auf die von Krankheit geschwächte Mischa. Vor den Augen des verzweifelt um seine Schwester kämpfenden Hannibal wird sie erbarmungslos wie Vieh geschlachtet.

Nach dem Krieg wird der von diesem Erlebnis traumatisierte Junge in einem Waisenhaus untergebracht, aus dem er nach mehreren Jahren nach Frankreich flieht, wo sein Onkel und seine Tante leben. Zwar ist sein Onkel inzwischen verstorben, doch seine Tante Murasaki Shikibu (Gong Li) nimmt den mittlerweile erwachsenen Hannibal (Gaspard Ulliel) bei sich auf und macht ihn mit östlichen Lehren vertraut. Unter ihren Fittichen lernt er den Umgang mit traditionellen japanischen Waffen. Ein Wissen, das er schon bald gut gebrauchen kann. Denn mit Schrecken wird er gewahr, dass sich die Mörder seiner Schwester ebenfalls nach Frankreich abgesetzt haben …

Hannibal Reloaded
Der Verdacht, es bei der populären Hannibal-Lecter-Reihe mit Geldschneiderei zu tun zu haben, liegt natürlich nahe. Indes: Er trifft nur bedingt zu. Hannibals geistiger Vater Thomas Harris (nicht zu verwechseln mit Genre-Kollegen Robert Harris) kann man nun wirklich nicht vorwerfen, das Eisen zu schmieden, so lange es noch heiß ist. Bis dato verfasste er 4 Romane rund um den beklemmend sympathischen Mörder. Zwischen „Roter Drache“ und „Hannibal Rising“ liegen dabei immerhin 25 Jahre. Anstatt einen „Hannibal“-Roman nach dem anderen auf den Markt zu werfen, lässt es Harris somit bedächtig angehen.

Zumindest „Roter Drache“, „Das Schweigen der Lämmer“ und „Hannibal“ merkt man diese Gelassenheit an: Alle diese Romane sind stilistisch vorzüglich gut geschrieben, fein recherchiert und überaus detailverliebt. Als Schnellschüsse kann man sie somit keinesfalls bezeichnen.

Etwas anders verhält es sich mit „Hannibal Rising“: Praktisch zeitgleich verfasste Harris das Drehbuch zum ein Jahr später angelaufenen Spielfilm. Die Leichtigkeit der ersten drei Bücher ist im Prequel nicht mehr anzutreffen. Gewiss: Das literarische Werk lässt sich ohne Stolpersteine oder Schwierigkeit in einem durchlesen, und gerade der Einstieg ist äußerst ansprechend gelungen. Doch das grundsätzliche Problem bleibt bestehen: Wenn schon ein neuer „Hannibal“, weshalb wird dann ausgerechnet das beleuchtet, was man gar nicht wissen wollte?

Thomas Harris entzaubert sowohl im Buch, als auch im Film, dessen Script er wie gesagt eigenhändig lieferte, den Mythos des unnahbaren, gleichzeitig faszinierenden Kannibalen mit Stil. Bühnenvorstellungen von Magiern bereiten uns deshalb Spaß, weil wir der Illusion, nicht der nüchternen Realität folgen. Wir wollen Dinge verschwinden sehen, statt vom Zauberer aufgeklärt zu werden, in welchem Ärmel oder unter welchem doppelten Boden ein Gegenstand versteckt wurde.

Noch dazu ist die Psychologie hinter der Entmystifizierung haarsträubend: Hannibal wurde durch den Krieg und diverse Traumata zu jener Figur, die uns Anthony Hopkins dermaßen großartig vorgaukelte. Ausgerechnet Thomas Harris persönlich deckt nun sämtliche Zaubertricks auf – und das Resultat ist Enttäuschung pur.

Gepflegte Langeweile
Was lief beim Film ebenso falsch, wie beim Buch? So ziemlich alles: Gaspard Ulliel, der einen ungewohnt jugendlichen Hannibal gibt, kann man wenig vorwerfen. Er spielt seine aalglatt angelegte Rolle souverän. Sein Hannibal ist ein von Rache besessener junger Mann – nicht mehr, nicht weniger. Keine Spur von der Eloquenz eines hinter Gittern befindlichen Strafgefangenen wie in „Das Schweigen der Lämmer“. Nicht einmal ansatzweise wird die süffisante Ironie aus „Hannibal“ gestreift, geschweige denn erreicht.

Hannibal verkommt zu einem ganz gewöhnlichen Mörder, der sich ein Katz-und-Maus-Spiel mit einem argwöhnischen Inspektor Popil (Dominic West) liefert. Selbst diese Verfolgungsjagd bietet nicht die geringste Spannung, da ja bekannt ist, wie die Geschichte enden wird: Hannibal überlebt, befindet sich bei bester Gesundheit, emigriert in die USA und macht sich dort einen Namen als Arzt, bis er eher zufällig gefasst wird. Der Rest ist Geschichte und sowohl in Buchform nachzulesen, als auch auf DVD erhältlich.

Auf der positiven Seite verbleiben lediglich die hohen Schauwerte: Die Bilder sind hübsch anzusehen, und selbst die grausigen Szenen ergehen sich in einer gewissen Lyrik der Ästhetik. Nur: Was hilft’s, wenn die Story zum einen banal, zum anderen gähnend langweilig ist?
In diesem Punkt wird die ganze Erbärmlichkeit etwa der neuen „Star Wars“-Trilogie offenkundig: Eine bereits abgeschlossene Entwicklung, über die der Zuschauer Bescheid weiß, rückblickend zu erzählen ist schlicht und ergreifend öde. Wir wissen, dass Hannibal Lecter später zu einem Serienkiller bzw. Anakin Skywalker zum Schergen eines Diktators reifen werden. Irgendein dramaturgischer Kniff ist somit nicht mehr möglich und der betreffende Film führt sich selber ad absurdum.

Pflichtgemäß metzelt sich Hannibal Lecter jun. durch Frankreich, nach 2 Stunden ist der Film zu Ende und der Zuschauer völlig desillusioniert. Das soll also das große Geheimnis hinter der Bösartigkeit der Bestie sein?

Was bleibt von „Hannibal Rising“? Die völlige Entmystifizierung des Monsters, hübsche Bilder, die jedoch wie Seifenblasen unmittelbar nach dem Betrachten zerplatzen, eine krude Hintergrundgeschichte und wenig Dialog zwischen den spannungsarm inszenierten Morden.
Gut möglich, dass nun auch die Lücke zwischen „Hannibal Rising“ und „Roter Drache“ gefüllt wird. Sollten die US-Jahre des Hobby-Kochs ähnlich unspektakulär verfilmt werden, wäre es besser gewesen, die Lämmer hätten auch nach Ridley Scotts „Hannibal“ geschwiegen.


Darsteller

  • Gaspard Ulliel … Erwachsener Hannibal Lecter
  • Aaron Thomas … Junger Hannibal Lecter
  • Gong Li … Lady Murasaki Shikibu
  • Rhys Ifans … Grutas
  • Dominic West … Inspektor Popil
  • Richard Brake … Enrikas Dortlich
  • Ivan Marevich … Bronys Grentz
  • Kevin McKidd … Petras Kolnas
  • Stephen Walters … Zigmas Milko

Regie
Peter Webber

Produktionsland, Jahr
Großbritannien, Tschechische Republik, Frankreich, Italien, 2007

Hannibal Rising Trailer


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2 Kommentare

  1. Für mich als Hannibal Lecter Fan war „Hannibal Rising“ ein Muss. Ich persönlich fand den Film sehr spannend – brutal ist er auch, stimmt – aber das gehört auch irgendwie zu einem Film aus dem Genre Horror bzw. Horror-Thriller. Danke für deine Kritik, auch wenn sie den Film ziemlich zerreißt 😉 aber jeder hat seine eigene Meinung, dafür sind Filmkritiken ja da!!!

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