Viele einflussreiche Hip-Hopper und Rap-Musiker der vergangenen Jahrzehnte, von den Beginnern über Freundeskreis bis hin zu Marteria, wurden von ihr entscheidend beeinflusst: der Bochumer Deutschrap-Formation RAG (Ruhrpott AG). Vier Freunde aus dem Ruhrgebiet, die mit Liedern wie „Kopf Stein Pflaster“ und „Unter Tage“ ab 1995/96 im Underground für Furore sorgten. Bis zur Auflösung 2003 blieb RAG der große Durchbruch jedoch verwehrt und heute ist die Band nur noch Insidern und Hardcore-Genre-Fans ein Begriff. Die Regisseure Julian Brimmers und Benjamin Westermann erzählen die Geschichte dieser frühen, in ihrer Musik sehr tiefgründigen Hip-Hop-Gruppe, die in den 1990er-Jahren zwei prägende Alben veröffentlichte.
Man merkt den beiden Filmemachern von Beginn an die Liebe zum Thema und das Interesse an den Porträtierten an. Ausgiebig befragen sie die Ex-Bandmitglieder und erweisen sich dabei stets als zurückhaltend agierende, gut informierte Interviewer. Das ist zum einen der Rapper Aphroe, dessen vielschichtige, sozialkritische Reime einen wesentlichen Beitrag zur kultischen Verehrung beitrugen, die man in der Szene der Ruhrpott AG entgegenbringt. Oder sein rappender Mitstreiter Pahel, dessen komplexe Familiengeschichte bis heute großen Einfluss auf seine Musik hat. Und schließlich DJ/Produzent Mr. Wiz, damals der ruhende Pol der Band und meist der Mann im Hintergrund, der für die passenden Beats und Rhythmen sorgte.
Unterschiedlichste Charaktere, deren Wesen ganz individuell das Bild dieser Band prägten. Diese Besonderheiten und charakterlichen Eigenschaften arbeiten die Regisseure in ihren behutsamen geführten Gesprächen wunderbar heraus. (Musik-)Geschichte wird lebendig, wenn sie die Musiker später an ehemaligen Wirkungsorten und „historischen Stätten“ besuchen. So fahren sie gemeinsam mit den EX-RAG-Mitgliedern durch deren Heimatstädte (u.a. Witten und Bochum), besichtigen die Tonstudios von damals, alte Clubs und ehemalige Wohnorte.
Darüber hinaus vergessen sie die tragische Geschichte rund um Michael Galla nicht. Galla war Mitbegründer und sieben Jahre lang ein wichtiger Teil von RAG. 2011 starb er nach jahrelanger Alkoholsucht mit nicht einmal 40 Jahren. Brimmers und Westermann arbeiten dessen Lebensgeschichte akkurat auf und sprechen mit Hinterblieben sowie Bekannten. Sie ermöglichen dem Kinobesucher auf diese Weise Einblicke in ein höchst fragiles, sensitives Seelenleben, über das bislang wenig bekannt war.
Außerdem ist „We almost lost Bochum“ garniert mit seltenen Privataufnahmen, tollen Original-Mitschnitten von TV-Shows (etwa der VIVA-Kultsendung „Freesstyle“), Fotos und Musik-Beispielen aus allen RAG-Phasen und davor: Aus einer Zeit, als die Rapper noch Teil anderer Bands waren. Denn bevor sie RAG formierten, gehörten die Musiker je zwei Gruppierungen an, die ab 1990 tief im Hip-Hop-Underground verwurzelt waren. Auch aus dieser, lange zurückliegenden Epoche sind spannende, in die Tiefen der Rap-Subkultur der frühen 90er-Jahre führende Song-Schnipsel im Film enthalten.
Fazit: Hochinformative, lehrreiche und akkurat recherchierte Doku, die im Kern eine zutiefst bewegende Geschichte über Freundschaft, Tod, Heimat und Vergangenheitsbewältigung erzählt.
Bewertung: 8/10