In einem malerischen Bergdorf in Aserbaidschan lebt der Bauer Tapdiq in einfachsten Verhältnissen mit seiner Familie in einem notdürftig errichteten Bretterverschlag. Um ihm und vor allem seiner Familie ein besseres Leben bieten zu können, hegt er den Traum, sich eine europäische Kuh anzuschaffen. Von ihr erwartet er mehr und bessere Milch und damit auch höhere Erträge. Das Problem ist nur, dass die konservativen Dorfbewohner, die auf den althergebrachten Traditionen beharren, ein großes Problem mit diesem Plan haben. Noch nie gab es eine „ausländische“ Kuh im Dorf, außerdem – so die Befürchtung der Bewohner – würden durch die Kuh Krankheiten und Unglück über das Dorf gebracht. Und so erfährt Tapdiq zunächst nur Ablehnung, sei es von Freunden, der Familie oder den eigenen Nachbarn. Dennoch beharrt er auf seiner Meinung und kauft die Kuh, die er bald auf den Namen „Madonna“ tauft.
Wie sich die Anschaffung dieser schwarz-weiß-gecheckten, europäischen Kuh auf den Bauern, seine Familie und das komplette Dorfleben auswirken, schildert die Doku „Holy Cow“ von Regisseur Imam Hasanov. Hasanov führte nicht nur Regie bei diesem Film, der als erster internationaler Dokumentarfilm Aserbaidschans gilt, sondern schrieb auch das Drehbuch. Seine Weltpremiere feierte „Holy Cow“ beim „IDFA“, dem größten Dokumentarfilmfestival der Welt in Amsterdam. Auf diesem Festival, das seit 1988 stattfindet, entwickelte sich der Film zum Publikumsrenner.
Das Großartige an „Holy Cow“ ist, dass der Film im Prinzip drei unterschiedlichen Themen bzw. Aspekte miteinander verknüpft. Geht es vordergründig zunächst nur um die Kuh, die sich Tapdiq zwecks Verbesserung der Lebensverhältnisse anschaffen will (Thema 1), so nutzt der Film dieses Sujet als Aufhänger, um auch über das einfache Leben in einem abseits gelegenen Bergdorf des kleinen vorderasiatischen Landes (Thema 2) zu erzählen. Und schließlich handelt der Film davon, wie engstirnige Voreingenommenheit sowie althergebrachte Meinungen und Vorurteile gegenüber Neuem und Andersartigem abgebaut werden können (Thema 3). Vor dem Hintergrund der aktuellen Flüchtlingskrise eine passende Metapher, die sich geradezu anbietet und dem Film damit eine ungeheure Berechtigung und vor allem Aktualität verleiht. Die Kuh steht exemplarisch für die Vertriebenen und Flüchtenden Europas, das Dorf für die neue Heimat bzw. das Fluchtziel.
Von Beginn an alle Sympathien auf seiner Seite hat Tapdiq, der sich von seinem Vorhaben nicht abbringen lässt und fest an den Erfolg des Unterfangens glaubt. Akribisch bereitet er die Anschaffung der Kuh vor und plant mit seinen Söhnen exakt die Unterbringung im in der Nähe des Verschlags befindlichen Stall. Zweifel kommen ihm keine. Diese liegen ganz bei den (vor allem älteren) Dorfbewohnern. Wenn diese – auf einer Bank sitzend und über den Bauern mit dem sonderbaren Plan lästernd – sich darüber auslassen, wie man nur eine europäische Kuh ins Dorf holen und damit die anderen Tiere durch Krankheiten gefährden könne, dann erinnert das durchaus in Grundzügen und hinsichtlich der konsequenten Ablehnungshaltung an rassistisch motivierte Willkür und Intoleranz vieler Menschen gegenüber den Flüchtlingen – natürlich im übertragenen Sinne.
Darüber hinaus zeigt der Film das ruhige Alltagsleben im Einklang mit Tier und Natur im malerisch gelegenen Dorf. Dies tut er sanft und melancholisch, ganz ohne Kommentar, Interviews oder Musik. Ganz in der Tradition des „Direct Cinema“ treten Kamera und Regisseur hier als objektiv-neutrale, beobachtende Elemente auf. Eine Einflussnahme von Außen erfolgt nicht, es handelt sich quasi um abgefilmtes „reales Leben“. Filmemacher und Kamera sollen unsichtbar erscheinen. „Holy Cow“ ist eine der gelungensten Dokus im noch jungen Filmjahr.
Fazit: Der Tradition des „Direct Cinema“ verschriebene, sanfte Doku über ein zum Schmunzeln anregendes Thema, das im Übertragenen Sinne aber auf die aktuelle Flüchtlingskrise anwendbar ist und somit an Aktualität nicht zu übertreffen ist.
Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.