Nordwestdeutschland während der letzten Kriegstage: Willi Herold (Max Hubacher) ist ein einfacher Gefreiter, der sich auf der Flucht vor seinen Vorgesetzten befindet. Das Glück meint es gut mit ihm, als er in einem verwaisten Auto zufällig die Uniform eines hochdekorierten Offiziers findet, die ihm noch dazu wie angegossen passt. Schnell gelingt es ihm, seine neue Rolle glaubhaft auch vor anderen Geflüchteten darzustellen. Und so schart er bald eine Gruppe versprengter Soldaten (u.a. Milan Peschel, Frederick Lau) um sich, die in ihm eine echte Autoritätsperson sehen. Auch in dem emsländischen „Lager 2“ gelingt es Herold erfolgreich, den Offizier zu spielen. Und geht dort sogar noch weiter: er behauptet, der Führer höchstpersönlich habe ihm den Befehl erteilt, rigoros gegen Deserteure und Gefangene der Straflager vorzugehen. Es dauert nicht lange und Herold lässt zahllose Gefangene brutal hinrichten. Und auch er selbst wird zum Henker.
Der Film von Regisseur Robert Schwentke beruht auf wahren Begebenheiten. Willi Herold, damals 19 Jahre alt, ordnete in den letzten Kriegstagen die Ermordung von rund 100 Häftlingen an, von denen er einige eigenhändig ermordete. Nach dem Krieg wurde er mit 13 seiner Gefolgsleute, die er während der Gräueltaten um sich scharte, zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde im November 1946 in Wolfenbüttel vollstreckt. Filmemacher Schwentke („Flight Plan“, „R.E.D.“) kehrte für seinen Schwarz-Weiß-Historienfilm nach jahrelanger Arbeit in den USA in seine deutsche Heimat zurück. Gedreht wurde Anfang 2017 u.a. in den polnischen Städten Breslau und Zgorzelec.
„Der Hauptmann“ ist eine schwer verdauliche, teils radikale filmische Erfahrung, die die Zuschauer in zwei Lager spalten wird. Die einen werden sich ob der zur Schau gestellten Grausamkeiten und platzenden Körper (eine solche Szene gibt es im Film tatsächlich) schockiert abwenden und womöglich sogar den Kinosaal frühzeitig verlassen. Die anderen werden gebannt vor der Leinwand sitzen und ungläubig darüber staunen, wie glaubhaft und dringlich Schwentke die Verrohung der Soldaten in den letzten Kriegswochen darstellt. Denn dass es diese fraglos – gerade auf Seiten der Nazi-Täter gab – ist kein Geheimnis und historisch belegt.
Allein in den letzten beiden Monaten des Zweiten Weltkriegs, wurden fast 10 000 Fahnenflüchtige standesrechtlich erschossen. Barbarische Gräueltaten seelischer Wracks, die aufgrund des erlebten Kriegs-Horrors und des alltäglichen Leids, in den heruntergekommenen Straflagern zu blutrünstigen Henkern ohne Gewissen wurden. Zu jenen erbarmungslosen Henkern ohne Moral gehörten auch der falsche Hauptmann Herold und seine Getreuen. Einer der interessantesten Aspekte im Film ist die Transformation Herolds: wie sich der einfache, von seiner Gruppe getrennte Gefreite, nach dem Anlegen der Uniform langsam in eine gefühllose Bestie verwandelt.
Der Schweizer Hauptdarsteller Max Hubacher verkörpert den Hauptmann mit stoischer, ausdrucksloser Miene, kaltem Blick und beachtlich herrischem Auftreten, das zutiefst einschüchternd wirkt. Verstörend sind die Szenen, in denen Herold sein Auftreten als Offizier übt, Selbstgespräche führt und Gestik sowie Mimik bis zur Perfektion trainiert. Überhaupt wird der Film zu weiten Teilen von seinem stark und nachdrücklich aufspielenden Cast getragen. In erster Linie sind hier – neben Hubacher – noch Frederick Lau und Alexander Fehling zu nennen. Lau brilliert als völlig enthemmter, gnadenlos brutal auftretender Psychopath, dem das Morden und Quälen diebische Freude bereitet und Befriedigung verschafft. Fehling agiert authentisch als Hauptmann Junker, der Herold wiederzuerkennen glaubt.
Tatsächlich sind sich Junker und Herold zuvor bereits begegnet, allerdings bevor sich Herold die Offiziers-Uniform überstreifte. Durch diese Gefahr, jederzeit auffliegen und enttarnt werden zu können, erfährt „Der Hauptmann“ eine ungeheure zusätzliche Spannung, die für Gänsehaut sorgt. Und für gemischte Gefühle. Denn meist schlägt man sich als Zuschauer auf die Seite des Protagonisten eines Films. Und bangt mit ihm, nicht ertappt werden. Da es sich bei Herold aber um alles andere als eine sympathische, liebenswürdige Identifikationsfigur handelt, schert man sich irgendwann nicht mehr um das Schicksal des jungen Mannes. Mutig ist zudem die Entscheidung Schwentkes, sein Kriegsdrama in Schwarz-Weiß zu drehen. Die kunstvolle Bildsprache und ästhetische Optik des Films steht so in einem krassen Widerspruch zu dem, was sich an abscheulichen, menschenunwürdigen Taten auf der Leinwand abspielt.
Fazit: Mutige, schwer verdauliche Abhandlung über die Verrohung des Menschen in Zeiten des Krieges, die beim Betrachten stark ambivalente Gefühle hervorruft und mit seinem umwerfenden Cast beeindruckt.
Bewertung: 8/10
Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.