Selbst nach rund 150 Jahren der Erstveröffentlichung hat Lewis Carrolls Meisterwerk „Alice im Wunderland“ nichts an Faszination und Inspirationskraft verloren. Dutzende Filme basieren direkt oder indirekt auf dem Klassiker, darunter Guillermo del Toros „Pans Labyrinth“ oder „Coraline“. Der von Henry Selick produzierte Streifen basiert auf einem Buch des Briten Neil Gaiman, nimmt jedoch trotzdem sehr deutliche Anleihen bei „Alice im Wunderland“. Ob der im Stop-Motion-Verfahren gedrehte Film zu überzeugen weiß, erfahrt ihr, wenn ihr dem weißen Kritiker-Kaninchen folgt.
Es ist nicht alles Gold, das glänzt
Die junge Coraline ist sauer, dass ihre Eltern in ein uraltes, heruntergekommenes Herrenhaus in einer scheinbar völlig verlassenen Gegend gezogen sind. Immerhin musste sie ihre wenigen Freunde zurücklassen und fühlt sich zudem höchst unwohl in der neuen, von langweiligen sowie offensichtlich verrückten Zeitgenossen bewohnten Heimat. Ihre schriftstellerisch tätigen Eltern haben nie Zeit für sie und fühlen sich von dem heranwachsenden Teenager ständig genervt.
Frustriert streunt Coraline, die ihren kuriosen Namen hasst, durch die Gegend. Dabei macht sie die Bekanntschaft mit Wybie, einem ständig plappernden, unsicheren Nachbarsjungen, dessen schwarzer Kater Coraline bei der ersten Begegnung einen Schrecken einjagt. Ausgerechnet der aufdringliche Wybie setzt Ereignisse in Gang, die Coralines Leben völlig durcheinanderbringen. Er schenkt ihr eine Puppe, die der verschwundenen Schwester seiner Großmutter gehörte. Kurz darauf dringt Coraline zum ersten Mal in eine andere Welt ein, die sie durch eine kleine Tür in der Mauer betreten und verlassen kann.
In dieser anderen Welt sind ihre Eltern wie ausgewechselt: Die ansonsten mürrische Mutter kocht wunderbare Gerichte, ist stets freundlich und aufmerksam, während ihr Vater witzig ist und vor originellen Einfällen übersprüht. Außerdem ist ständig irgendetwas atemberaubend Spannendes oder Unterhaltsames los. Nur eines erscheint ihr merkwürdig: Anstelle von Augen haben sämtliche Menschen und Lebewesen Knöpfe – abgesehen von Wybies Kater, der ihr gefolgt ist, plötzlich sprechen kann und sie eindringlich vor dem wunderbaren Idyll dieser anderen Welt warnt. Schon bald muss Coraline erfahren, was es mit der Parallelwelt wirklich auf sich hat …
Originalität ist Trumpf!
Die oftmaligen Vergleiche zu Del Toros „Pans Labyrinth“ kommen nicht von ungefähr: Beide Filme bedienen sich gewaltiger Bilderwelten, junger Protagonistinnen im Kampf gegen die graue Alltagswelt und setzen auf einen komplexen, hintergründigen Plot, statt oberflächlichen Fantasy-Kitsch wie Disneys „Die Chroniken von Narnia“. Der Grund für die Flucht der Mädchen vor der Wirklichkeit könnte indes nicht unterschiedlicher sein: Während in „Pans Labyrinth“ die Schrecken des Krieges das Leben der Heldin bestimmen, muss Coraline keinesfalls ums nackte Überleben fürchten. Ihre Weigerung, die Realität als solche zu akzeptieren, entspringt einem psychologischen Motiv: Dem Schrecken des Erwachsenwerdens.
Coraline beginnt die Mühsale des Lebens zu verstehen. Ihre Eltern müssen für den täglichen Unterhalt arbeiten, nicht alle Wünsche gehen in Erfüllung, Menschen sind so, wie sie sind, und ab einem gewissen Alter wird von einem erwartet, eigenständig zu agieren, statt wie ein Kind zu quengeln und sich unterhalten zu lassen.
Living Next Door To Alice!
Die ungewöhnliche, heutzutage nur noch selten anzutreffende Stop-Motion-Technik zaubert sehr eindringliche Bildwelten auf die Leinwand, die nicht dermaßen ausufernd und überquellend sein mögen wie bei der CGI-Konkurrenz. Dennoch birgt sie ihren ganz eigenen Charme in sich, den sie zu ihren Gunsten auszuspielen versteht. In manchen Szenen hat der Zuschauer das Gefühl, sich in einer perfekt animierten Puppenwelt zu befinden, die er jederzeit betreten könnte, was etwa bei „Ice Age“ nicht der Fall ist.
Neben der technisch gelungenen Umsetzung ist es die Geschichte, die trotz zwei Stunden Länge durchaus zu fesseln versteht, so man auch für leise Töne ein Ohr erübrigen kann. Die „Alice im Wunderland“-Referenzen sind unübersehbar: Die Tür, durch die man in eine andere Welt schreitet, die naive, gerade im Erwachsenwerden begriffene Protagonistin, das plötzlich sprechende Haustier – all dies kennt man zwar bereits, doch werden diese Ingredienzien für einen bunten, harmlosen Kinderfilm ins Groteske und mehr noch, ins Makabre verzerrt.
Nicht ohne Grund besitzen die Bewohner der Parallelwelt keine Augen, sondern Knöpfe, da sie wenig mehr denn seelenlose Puppen sind. Das Motiv der Augen bzw. deren Fehlen ist ein altbekanntes und sehr starkes, so auch hier. Coraline muss offenen Auges Abschied von ihrer Kindheit nehmen, die durch die Erfüllung jedweder Wünsche gekennzeichnet ist: Sie wünscht sich eine stets lächelnde, aufmerksame Mutter und einen fröhlichen Vater, also bekommt sie diese in der anderen Welt! Sie wünscht sich bunte Unterhaltung, Zuckerwatte und wunderschöne Blumen, und auch diese werden in der Parallelwelt Wirklichkeit.
Der Preis dafür ist jedoch, niemals erwachsen zu werden. Und genau an diesem Punkt muss sie um ihre Weiterentwicklung zu kämpfen beginnen.
Wie sie diesen Kampf aufnimmt, wird natürlich nicht weiter ausgeführt. Dem Leser sei jedoch versichert, dass „Coraline“ zwei Stunden lang sowohl optische Gimmicks, als auch ein kluger Plot geboten werden. Die mittlerweile ungewohnt scheinende 2D-Darstellung, die relativ ernsthafte Auseinandersetzung mit dem Thema sowie die Absenz mehr oder weniger lustiger Nebenfiguren sind nicht jedermanns Sache.
Vor allem nicht für Kleinkinder, denen die Geschichte zu komplex, wie auch zu makaber sein dürfte. Deshalb sei der Kinobesuch oder ein Filmabend eher für ein jugendliches Publikum empfohlen, wiewohl sich auch ältere Generationen mit Wehmut in der einen oder anderen Szene selber erkennen dürften.
Denn wer hat sich nicht schon öfter gewünscht, wieder ein Kind zu sein und die Probleme und Nöte der Erwachsenenwelt nur scheinbar hinter sich zu lassen? Wie absurd, ja, gefährlich dieser Wunsch sein kann, schildert „Coraline“ auf wunderbar unaufdringliche Weise. Deshalb kann für diesen Streifen eine ganz klare Empfehlung abgegeben werden! Gerade nach all den ohrenbetäubend lauten und herzerschütternd inhaltsleeren Blockbusterfilme der letzten Zeit, wie „Transformers 2“, ist ein solcher stiller und gleichsam unterhaltsamer Streifen eine Erholung für die Nerven und Anregung für das Gehirn.
Sprecher
- Luisa Wietzorek … Coraline
- Bettina Weiß … Mutter
- Patrick Winczewsk … Vater
- Sara Paxton… Miss April Spink
- Katja Nottke … Miss Miriam Forcible
- Reiner Schöne … Katze
- Hannes Maurer … Wyborne „Wybie“ Lovat
- Klaus-Dieter Klebsch … Sergei Alexander Bobinsky
Regie
Henry Selick
Produktionsland, Jahr
USA, 2009
Coraline Trailer