„X-Men – Erste Entscheidung“ ist nicht das erste Prequel, das sich mit der Entstehung und Vorgeschichte einzelner Mutanten aus dem Marvel-Universum befasst. Mutanten, das sind Menschen, die aufgrund ihres Gencodes übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten besitzen. Der südafrikanische Regisseur Gavin Hood („Tsotsi“) inszenierte 2009 mit „X-Men Origins: Wolverine“ einen Film, der sich der Entstehung des Mutanten Wolverine widmete. Künstlerisch und kommerziell blieb das Werk jedoch deutlich hinter den Erwartungen zurück, weshalb sich Regisseur Matthew Vaughn zu Beginn der Produktion seines Films „X-Men: Erste Entscheidung“ und damit des zweiten Prequels im Oktober 2010 nicht über mangelnden Erwartungsdruck beklagen konnte. Sein Faible und ausgesprochenes Talent für mitreißende Comic-Verfilmungen bewies er im vergangenen Jahr mit seiner Superhelden-Komödie „Kick-Ass“. Vaughn stieg durch den großen Erfolg des Films die Karriereleiter folglich weiter empor und gehört seitdem zur ersten Liga unter Hollywoods Regisseuren.
Das produzierende Studio 20th Century Fox stellte Vaughn daraufhin über 100 Millionen Dollar zur Verfügung, um den Erfolg der ersten drei Filme („X-Men 1-3“ spielten weltweit über eine Milliarde Dollar ein) zu wiederholen und auch die Kritiker zu besänftigen. Vaughn bekam von Fox gerade einmal acht Monate Zeit, um einen lupenreinen Popcorn-Blockbuster aus dem Boden zu stampfen, da der Film in den USA pünktlich am 03. Juni 2011 an den Start gehen sollte. Erstaunlich dabei ist, dass sich das Ergebnis trotz des engen Zeitplans und der unüblich extrem kurzen (Post-) Produktionszeit durchaus sehen lassen kann: Vaughn nutzt bei „X-Men: Erste Entscheidung“ das in ihn gehegte Vertrauen und kreiert einen packenden und actiongeladenen Film, der seine Längen und mitunter vermeidbaren Erzählebenen und Handlungsstränge durch großartig agierende Hauptdarsteller und eine scharfe Charakterzeichnung ausgleicht.
Zu Beginn der 60er-Jahre lernen sich Charles Xavier (James McAvoy), ein Experte für genetisch weiterentwickelte Menschen, und Erik Lehnsherr (Michael Fassbender), ein traumatisierter KZ-Überlebender, kennen. Xavier und Lehnsherr, beide selbst Mutanten, entwickeln eine tiefe Freundschaft und beginnen damit, junge Mutanten auszubilden. Um einen globalen Nuklearkrieg zu verhindern, zeigt sich das Mutantenteam erstmals der Welt und sichert den eigenen Fortbestand. Xavier, ein ausgewiesener Freund der Menschen, träumt vom friedvollen Zusammenleben von Mensch und Mutant. Lehnsherr hingegen misstraut den Menschen und sieht sie als Bedrohung für die Existenz der Mutanten an. Das Unheil nimmt seinen Lauf: Aus den Freunden Xavier und Lehnsherr werden Feinde, aus Lehnsherr wird Magneto. Die aufkeimende Feindschaft der Beiden sowie die Spaltung der beiden „Mutanten-Lager“ sät derweil die Saat für die Zukunft…
„X-Men: Erste Entscheidung“ dürfte nach dem mittelmäßigen „X-Men Origins: Wolverine“ die Fans der Reihe wieder besänftigen. Ohne den Humor und die geschliffenen Dialoge der ersten drei „X-Men“-Filme vermissen zu lassen, schlägt Vaughns Film auch leisere und ernste Töne an. Die Entwicklung der innigen Freundschaft der beiden Hauptpersonen Charles Xavier (später Professor X) und Erik Lehnsherr (später Magneto) hin zu einer erbitterten Feindschaft spielt sich vor dem Hintergrund der drohenden nuklearen Katastrophe in Form eines möglichen dritten Weltkriegs ab: Kuba-Krise 1962, Höhepunkt des Kalten Krieges, Ost gegen West. Vaughn nutzt den Handlungsstrang des Kalten Krieges geschickt als Auslöser einer ungemein fesselnd inszenierten letzten halben Stunde, die schließlich mit dem endgültigen Bruch der Beziehung zwischen Xavier und Lehnsherr ihren tragischen Höhepunkt findet. Vaughn nimmt den Zuschauer mit auf eine Reise in die Vergangenheit, in die Zeit von JFK, Mondlandung und Martin Luther King. Die Handlungsorte, Schauplätze und Settings sind realistisch und detailgetreu gelungen. Von den 1940er bis zu den frühen 1960er Jahren spannt sich der erzählerische Bogen des Films, an dem am Ende mehr Drehbuchautoren mitwirkten als es Mutanten in der Originalcrew der X-Men gibt.
Ein weiteres Lob gebührt den beiden jungen Hauptdarstellern James McAvoy („Wanted“, „Abbitte“) und Michael Fassbender („300“, „Eden Lake“). Den Beiden gelingt es mühelos, die unterschiedlichen Facetten ihrer vielschichtigen Charaktere zum Ausdruck zu bringen. Die Ambivalenz ihrer freundschaftlichen Beziehung wird in fast jeder Szene deutlich: Zwar bewundern sie einander, ihre weltanschaulichen Differenzen und ihre Haltung der Spezies „Mensch“ gegenüber lässt jedoch schon früh erkennen, dass die Beziehung nur tragisch enden kann. McAvoy und Fassbender werden sich nach diesem Film vor Filmangeboten kaum retten können. Mit über 120 Minuten kommt „X-Men: Erste Entscheidung“ jedoch streckenweise auch ein wenig langatmig daher, einige Szene wirken künstlich in die Länge gezogen und hätten mitunter besser der Schere zum Opfer fallen sollen. An dieser Stelle wäre weniger mehr gewesen, 15 – 20 Minuten weniger Spielzeit hätten dem Film gut getan. Darüber hinaus überzeugen auch die visuellen Effekte nicht vollends. Zu oft ist die digitale Herkunft vieler animierter Figuren und Gegenstände (etwa die dutzenden Schiffe im Finale) sofort ersichtlich. An die bestechende Optik und realistische Tricktechnik der drei ersten Filme reicht „X-Men: Erste Entscheidung“ zu keiner Zeit heran.
Alles in allem bietet „X-Men: Origins“ aber äußerst unterhaltsame und (für Blockbuster-Verhältnisse) anspruchsvolle Kino-Kost für Freunde actionreicher und tiefgründiger Comic-Verfilmungen. Der Film vereint Außenseiter-Drama, Effekte-Gewitter und Rachegeschichte auf gelungene Weise.
Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.
Darsteller:
- Jennifer Lawrence
- Michael Fassbender
- Rose Byrne
- January Jones
- James McAvoy
- Nicholas Hoult
- Kevin Bacon
- Zoë Kravitz
- Jason Flemyng
- Lucas Till
- Morgan Lily
- Edi Gathegi
- …
Erscheinungsjahr:
2011 / USA
Regie:
Matthew Vaughn
X-Men: Erste Entscheidung Trailer