Alleine die Aufzählung der Preise, die das von Lee Daniels inszenierte Drama „Precious“ einheimste, würde den Rahmen dieser Kritik sprengen. Angesichts der globalen Lobeshymnen stellt sich natürlich die Frage, ob der Hype gerechtfertigt ist oder wieder einmal nur ein Nichts zu einem gigantischen Irgendetwas aufgeblasen wurde. Um es vorweg zu nehmen: Der Streifen rund um eine vom Schicksal gebeutelte Schwarze im US-Ghetto macht es dem Zuschauer wahrlich nicht leicht. Ob sich die Rezeption des zweistündigen Dramas dennoch lohnt, erfahrt ihr in nachfolgender wertvoller Kritik.
In the Ghetto
Das Leben meinte es mit Claireece „Precious“ Jones (Gabourey Sidibe) bislang nicht allzu gut. Der dunkelhäutige Teenager ist fettleibig, wenig attraktiv und bereits zum zweiten Mal schwanger. Als wäre das nicht genug, wurde sie vom Vater ihrer Kinder mit dem HI-Virus infiziert. Quasi zum Drüberstreuen handelt es sich dabei um ihren eigenen Vater, der sie immer wieder vergewaltigte und schlug.
Kurzum: Precious sieht einem völlig hoffnungslosen Leben entgegen. Auf die Schule hat sie deshalb auch keinen Bock mehr. Schließlich erklärt ihr ihre Mutter (Mo’Nique) immer wieder, wie wertlos sie sei und dass es ohnehin nichts bringe, im Leben irgendeine Verbesserung anzustreben. Folglich ist sie auch wenig begeistert als sie erfährt, dass Precious in einer alternativen Schule das Lesen erlernen und einen Abschluss machen will. Zaghaft beginnt sie sich mit Hilfe der engagierten Lehrerin Miss Rain (Paula Patton) sowie der herzensguten Sozialarbeiterin Mrs. Weiss (Mariah Carey) von ihrer Mutter und dem vermeintlich unverrückbaren Schicksal zu emanzipieren …
Es gibt kein Schicksal!
Mit „Precious“ räumte Lee Daniels 2009 und 2010 gewaltig ab: Vor allem Mo’Nique (unter anderem „Oscar“ als beste Nebendarstellerin) und die Newcomerin Gabourey Sidibe in der Hauptrolle des Teenagers Precious vermochten die Kritiker zu begeistern. Berechtigt, wiewohl auch die anderen Rollen hervorragend besetzt wurden. Rockstar Lenny Kravitz verkörpert die einzige bedeutende männliche Rolle in dem fast durchwegs von Frauen dominierten Cast. Als ganz große Überraschung erweist sich aber Soul-Diva Mariah Carey. Die ohne Glanz und Glamour kaum wiederzuerkennende Sängerin verblüfft mit einer tadellosen Schauspielleistung, die ihr wohl kaum jemand zugetraut hätte.
Es sind aber nicht nur die Darsteller, die „Precious“ Leben einhauchen. Vielmehr inszeniert Lee Daniels einen mitunter arg klischeehaften, jedoch stets mitreißenden Streifen, der sich nicht in schickem Nihilismus ergeht, sondern das Prinzip Hoffnung in den Mittelpunkt rückt. Dabei greift Daniels tief in die Trickkiste, um das Leid des Teenagers erträglich zu gestalten. Immer wieder gönnt er seiner Protagonistin eine Art Auszeit von der düsteren Realität, indem er sie in Tagträumen von einem besseren Leben schwelgen lässt. Tatsächlich stellt dies eine Notwendigkeit dar, um den Zuschauer nicht vollends zu deprimieren. Denn was Precious innerhalb kürzester Zeit zustößt, ergäbe Stoff für ein Dutzend tranige Soap-Operas.
Ungeachtet der Lebensumstände versinkt Precious jedoch nicht in Selbstmitleid und völlige Hoffnungslosigkeit, wie es ihre Mutter tagtäglich vorexerziert. Zwar benötigt sie sanftes Drängen von ihr wohlgesonnenen Mitmenschen, aber sie ergreift die sich ihr bietenden Hände dankbar, anstatt sie wegzustoßen. Und exakt dies macht ihre Stärke aus. Ihre Mutter hingegen ergibt sich dem vermeintlichen Schicksal, führt ein stumpfes Leben vor der Glotze und lässt sich von der Sozialhilfe aushalten. Den Absprung in ein eigenständiges Dasein hat sie nie geschafft – und exakt dies möchte sie auch ihrer Tochter vorenthalten, die sie für all ihr Unglück verantwortlich macht.
Hilfe annehmen können
„Precious“ ist somit keineswegs ein weiteres Drama der Marke: „Die ganze Welt ist schlecht“. Im Gegenteil: Von Beginn weg ist der Film ein Plädoyer für Mut. Mut, Hilfe annehmen zu können; Mut, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen; Mut, über den Dingen zu stehen. Und vor allem Mut, sich seine Würde niemals nehmen zu lassen, was im Falle von „Precious“ auf ein gleichsam stilles, wie auch eindringliches Finale hinausläuft. Natürlich kann man sich an den zahlreichen Klischees ereifern, die in einem solchen Film wohl unvermeidlich sind. Beispielsweise ist die Figur der engagierten Lehrerin Miss Rain die Verkörperung eines Ideals, das etwa Robin Williams in „Der Klub der toten Dichter“ oder Michelle Pfeiffer in „Dangerous Minds“ einigermaßen adäquat ausfüllten. Der in den (Un-)Tiefen der Seelen seiner Schüler wühlende Pädagoge mit viel Herz und Courage, der an der gesellschaftlichen Realität des Konformismus scheitert, nachdem er jungen Menschen einen Einblick in die wunderbare Welt des Wissens und der persönlichen Freiheit vermittelte.
Wie bereits eingangs erwähnt macht es „Precious“ sich und dem Zuschauer nicht leicht. Die Sympathien für die „Heldin“ sind mitunter einem Wechselbad der Gefühle ausgesetzt, wenn sie sich Beleidigungen oder Erniedrigungen auf die einzige ihr mögliche Weise erwehrt: Mit körperlicher Gewalt, also jener Sprache, die in der Wohnung ihrer Mutter gesprochen wird.
Und dennoch: Die auf dem Roman „Push“ basierende Verfilmung zieht auch ohne sensationslüsterne Detailaufnahmen des Elends in den Bann. Wo andere Regisseure auf den Grausamkeiten des abgebildeten Lebens geradezu voyeuristisch verweilen würden, blendet Daniels klugerweise aus und erschafft somit eine Ebene des Vertrauens: Der Zuschauer weiß, dass sowohl er, als auch Precious ernst genommen werden. Eine Eigenschaft, die gerade dramatischen Stoffen in den letzten Jahren oftmals abhanden gekommen ist.
Fazit: Ungewöhnliche Einblicke in das Leben zweier nur scheinbar gescheiterter Existenzen. Kein lautes, sondern berührendes Kino, das sich den dümmlichen deutschen Untertitel „Das Leben ist kostbar“ wahrlich nicht verdient hat.
Darsteller
- Gabourey Sidibe … Precious
- Mo’Nique … Mary
- Paula Patton … Miss Rain
- Mariah Carey … Mrs. Weiss
- Sherri Shepherd … Cornrows
- Lenny Kravitz … Pfleger John
- Stephanie Andujar … Rita
- Chyna Layne … Rhonda
- Amina Robinson … Jermaine
- Xosha Roquemore … Joann
- Angelic Zambrana … Consuelo
- Aunt Dot … Tootsie
- Nealla Gordon … Mrs. Lichtenstein
- Kimberly Russell … Katherine
- Bill Sage … Mr. Wicher
Regie
Lee Daniels
Produktionsland, Jahr
USA, 2008
Precious Trailer