Nocturama Kritik

Nocturama Filmkritik

Paris an einem sonnigen, scheinbar ganz normalen Tag: man sieht eine Vielzahl an Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft und Religion durch die französische Metropole streifen. In der Metro, in der Stadt, auf den Straßen. Unter ihnen Mika (Jamil McCraven), Sabrina (Manal Issa) Samir (Ilias Le Doré) und André (Martin Guyot). Sie scheinen etwas zu planen und ihre Handlungen in Verbindung miteinander zu stehen. Sie wirken entschlossen. Und: etwas Bedrohliches liegt in der Luft. Je weiter der Film voranschreitet desto klarer wird, dass die Jugendlichen eine Reihe von Anschlägen verüben werden. Nach den Attentaten verstecken sie sich in einem Kaufhaus. Dort wollen sie warten, bis sich die Lage beruhigt hat. Doch irgendetwas gibt einem das Gefühl, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie entdeckt werden.

Nach drei Jahren Pause kehrt das französische Multitalent Bertrand Bonello wieder auf die Leinwand zurück. Mit seinem insgesamt sechsten Spielfilm. Seinen Durchbruch feierte er 2011 mit dem Drama „Haus der Sünde“, 2014 gelang ihm mit der Biografie „Saint-Laurent“ ein Kritikererfolg. Darin befasste er sich mit den erfolgreichsten Jahren im Leben des französischen Modeschöpfers Yves Saint-Laurent. Für „Nocturama“ schrieb Bonello, der abwechselnd in Paris und im kanadischen Montreal lebt, auch das Drehbuch und komponierte sogar die Filmmusik. Seine Weltpremiere erlebte das französisch-belgisch-deutsche Thriller-Drama im letzten Jahr auf dem Filmfest in San Sebastian.


Meisterhaft und formvollendet inszeniert Bonello seinen Thriller, der auch durch eine stilvolle Montage und einen intelligenten Schnitt besticht. Darüber hinaus bedient sich der aus Nizza stammende Regisseur moderner visueller Elemente und einiger technischer Spielereien, um eine Stimmung der Ohnmacht und höchsten (An)Spannung beim Betrachter zu erzeugen. Höhepunkt dieser Herangehensweise ist das in dringlichen, beklemmenden Split-Screen-Einstellungen präsentierte, ungeheure Schauspiel der Explosionen. Die Sprengsätze der Jugendbande explodieren gleichzeitig, an unterschiedlichen Orten der Hauptstadt. So z.B. im Verteidigungsministerium, vor der Statue der Nationalheldin Johanna von Orléans und auch vor der Börse.

Die Börse – wohl nichts anderes steht exemplarischer für die Geldgier des Establishments, raffgiere Zocker und das kapitalistischen System. Ein System, in dem der Einzelne nichts zählt. Vielleicht einer der Gründe, wieso sich diese desillusionierten Jugendlichen zu einer Gruppe zusammengeschlossen haben und gegen Politik und Staat aufbegehren. Geschickt serviert Bonello immer wieder kurze Ausschnitte und Sprünge in die Zeit vor den Anschlägen. Die Jugendlichen bleiben dennoch die meiste Zeit über unnahbar und schwer zu fassen. Alle jugendlichen Darsteller zeigen dabei eine beachtliche, mitreißende Performance, die an unmittelbarer Wahrhaftigkeit schwer zu überbieten ist. In ihrer Gestik und der körperlichen Haltung spiegeln sich Unsicherheit und Zweifel wider. Ihre Gesichtsausdrücke jedoch vermitteln eine bedrohliche Entschlossenheit. Eine Ambivalenz, die gleichermaßen abschreckend wie auch anziehend wirkt.

Im krassen Gegensatz zum ersten Akt des Films, steht der Zweite. Dieser setzt nach den Explosionen bzw. der Flucht der Jugendlichen in ihr Versteck ein. Und an der Stelle tritt wieder die Ambivalenz auf, vor allem was den nun folgenden Handlungsort und Schauplatz betrifft. Denn die Jugendlichen verstecken sich ausgerechnet in einem luxuriösen, mehrstöckigen Edel-Kaufhaus, das sinnbildlich für die wohlhabende, gut situierte Oberschicht und die Wegwerf-Gesellschaft steht. Sie befinden sich im Zentrum der Überfluss- und Konsumgesellschaft. An diesem Schauplatz entwickelt sich „Nocturama“ zu einem sinnlichen, erneut betörend schön gefilmten Kammerspiel, in dem sich die jungen Attentäter ganz den Freuden der Konsumgüter und edlen Produkte hingeben: sie schlüpfen in die teuerste Kleidung, legen sich in die Betten, ziehen (gruselige) Masken auf und lustwandeln durch die Abteilungen.

Dabei scheinen immer wieder auch die Grenzen zwischen Realität und Fiktion zu verschwimmen, wenn Regisseur seiner Lust für schaurige, surreale Momente frönt. Besonders im Gedächtnis bleibt jene Szene, in der einer der männlichen Attentäter den Klassiker „My Way“ intoniert. Als Frau geschminkt. Ein bizarres Schauspiel inmitten eines mehrdeutigen, ebenso komplexen wie lustvollen Dramas.

Fazit: „Nocturama“ ist ein doppelbödiges, in zwei unterschiedliche Filmhälften aufgeteiltes Thriller-Drama von ungeheures Intensität. Stilsicher und sinnlich inszeniert.
Bewertung 5/5

Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider.

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