Kinsey Filmkritik

kinseyAlfred Charles Kinsey war einer der umstrittensten und gleichzeitig erfolgreichsten Wissenschaftler des vergangenen Jahrhunderts. Mit seinen Forschungen bereitete er zudem den Weg für die sexuelle Revolution in den 1960er Jahren. Seine Veröffentlichungen verkauften sich im prüden Amerika der späten 40er und frühen 50er Jahre millionenfach, während erzkonservative und religiöse Kreise Kinsey und sein Werk verteufelten. Independent-Regisseur Bill Condon macht sich in „Kinsey“ daran, die komplexe Figur hinter dem Wissenschaftler und Sexualforscher zu ergründen, seine Entwicklung vom braven Biologiestudenten zum sexuellen Grenzgänger und führenden Forscher auf dem Gebiet der menschlichen Sexualität nachzuzeichnen.

Kinsey galt Zeit seines Lebens als ebenso schwieriger und vielschichtiger Charakter, dessen glaubhafte filmische Darstellung deshalb besondere schauspielerische Klasse erfordert. Und, gleich vorweg: Diese schauspielerische Brillanz fand Condon bei seinem Hauptdarsteller: Liam Neeson, einer der führenden Charaktermimen Hollywoods, in seiner vermutlich besten und wichtigsten Rolle seit dem Geschichtsdrama „Michael Collins“ (1996). Die Nominierung Neesons für den Golden Globe als Bester Hauptdarsteller war da nur die logische Konsequenz. Bei „Kinsey“ handelt es sich – gemessen an den sonst üblichen Kosten für Filme aus der Traumfabrik – um eine Independent-Produktion, die trotz eines geringen Budgets von nur etwa elf Millionen Dollar durch eine ganze Reihe hochklassiger, erfahrener Darsteller besticht. Neben Neeson brillieren Laura Linney als Kinseys Frau Clara (für ihre Rolle erhielt Linney eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin), Peter Sarsgaard und Chris O’Donnell als Mitglieder in Kinseys Forscher-Team, Oliver Platt als schrulliger Universitäts-Professor und schließlich John Lightow als Kinseys streng religiöser, verbitterter Vater. Die schauspielerischen Leistungen sind die große Stärke von „Kinsey“, mit ihnen steht und fällt der Film, dessen Thematik und Inhalte die amerikanische Bevölkerung immer noch spaltet -und das, obwohl Kinseys umstrittene Veröffentlichungen („Kinsey Reports“) schon über 60 Jahre alt sind.

Kinsey selbst wächst in streng puritanischen Verhältnissen auf, sein Vater ist als Laienprediger in der örtlichen Kirche aktiv und verteufelt jegliche Form von gelebter menschlicher Sexualität. Wie viele andere Altersgenossen glaubt Kinsey, dass auf Masturbation Blindheit folgt und dass Frauen durch das Tragen hochhackiger Schuhe unfruchtbar werden. So steht es damals in den Lehrbüchern. Kinsey interessiert sich schon früh für Natur und das Tierreich, mit dem anderen Geschlecht oder gar mit Sex verbindet ihn zunächst nichts. Kinsey studiert Biologie und Psychologie, unterrichtet an der Universität von Indiana und widmet sich für Jahre seinen Insektenstudien. An der Universität lernt Kinsey auch die Naturwissenschaftlerin Clara McMillen kennen, seine spätere Ehefrau und die Mutter seiner vier Kinder. Zwei Jahrzehnte ziehen ins Land, als Kinsey auf ein noch viel interessanteres, bis dahin von der Wissenschaft sträflich vernachlässigtes Forschungsgebiet stößt: die menschliche Sexualität. Kinsey ist erstaunt über die Wissenslücken und Informationsdefizite seiner Studenten im Bereich der Sexualität und beginnt fortan mit der Untersuchung dieses Phänomens. Er stellt sich ein Team aus motivierten und engagierten Studenten zusammen, denkt sich clevere Interviewtechniken aus und macht sich an die Durchführung von Einzelinterviews. Insgesamt befragen Kinsey und sein Team über 18 000 Amerikaner zu ihrem Sexualleben. Kinsey und sein Team fragen nach sexuellen Erfahrungen, nach den bevorzugten Stellungen, ob man bereits mit Tieren „verkehrte“, nach homo- oder bisexuellen Neigungen und nach sexuellen Wünschen und Phantasien. Auf Basis der Befragungen sowie der daraus resultierenden Ergebnissen veröffentlicht Kinsey 1948 dann sein Buch „Das sexuelle Verhalten des Mannes“, das wie eine Bombe einschlägt. Das Buch wird ein Verkaufsschlager und macht Kinsey schlagartig weltberühmt. Kinsey proklamiert die freie Liebe und möchte die Menschen von ihren Ängsten und Schuldgefühlen befreien. Nach diesem Erfolg möchte Kinsey die weibliche Sexualität in den Mittelpunkt seiner Forschung rücken und dieser auf den Grund gehen. Doch Kinsey unterschätzt die konservativen Kreise des damaligen Amerikas, die – wie sollte es anders sein – an den Hebeln der Macht sitzen und über Kinsey und seine Arbeit entscheiden…

Kinseys dramatischer Lebensweg bietet die beste Voraussetzung für eine filmische Umsetzung. Sein Leben ist gekennzeichnet von Sieg und Niederlage, von Aufstieg und Fall. Aus einem unbedarften, kleinen Zoologen, der das Verhalten von Gallwespen studiert, entwickelt sich einer der bedeutendsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, der von weiten Teilen der (vor allem jungen) Bevölkerung als Pionier der Sexualwissenschaft und Aufklärungsarbeit gefeiert und von erzkonservativer Seite angefeindet und verteufelt wurde. Sein Leben ist gleichermaßen Triumph und Tragödie, am Ende seines Lebens schätzte Kinsey selbst die gesellschaftlichen Auswirkungen seiner Arbeit und Forschung als gering ein. Die verdiente Anerkennung seiner Tätigkeiten als ernsthafter Wissenschaftler blieb Kinsey Zeit seines Lebens zudem verwehrt. Zwar entwickeln sich seine Veröffentlichungen zu Riesenerfolgen, Kollegen aus Forschung und Wissenschaft jedoch äußerten sich nur selten positiv über die bahnbrechenden Erkenntnisses Kinseys.

Regisseur Condon konzentriert sich voll auf die Darstellung seines Protagonisten. Hauptdarsteller Liam Neeson nimmt die Herausforderung der Darbietung verschiedenster Lebensphasen sowie ständiger persönlicher Wandlungen und Entwicklungen gerne an und spielt Kinsey mit einer derartigen Leinwandpräsenz und Überzeugung, dass der Sexualwissenschaftler zu jeder Zeit menschlich erscheint. Condon wollte mit seinem Film in erster Linie den Menschen Kinsey greifbar machen. Es ist ihm gelungen. Die Leistungen der übrigen Darsteller stehen dem in nichts nach. Daneben überzeugen vor allem die geschliffenen Dialoge, die sich durch Wortwitz und tiefsinnigen Humor auszeichnen. Neben der Leistung der Darsteller der zweite große Pluspunkt des Films. Der Humor tritt wohlproportioniert und in eher leisen Tönen zu Tage und vermittelt – sozusagen als Quintessenz – auf humorvolle Art und Weise die Botschaft des Films: Dass man mit seinen Wünschen, Bedürfnissen und Ängsten auf sexueller Ebene nicht alleine ist und nie alleine war. Was für das Amerika der 40er und 50er Jahre galt, hat heute ebenso bestand.

Trotzt einiger Längen (dem Film hätten 15 Minuten weniger Laufzeit wohl tatsächlich gut getan), die man im Verlauf des 115 Minuten dauernden Films wahrnimmt, ist „Kinsey“ alles in allem eine großartig gespielte, intensive Charakterstudie mit leisem Humor und intelligentem Wortwitz. Vor allem Freunde solider inszenierter und hervorragend besetzter Biopics kommen voll auf ihre Kosten.

Diese Filmkritik schrieb unser Redakteur Björn Schneider


Darsteller

  • Liam Neeson
  • Laura Linney
  • Chris O’Donnell

Regisseur
Bill Condon

Produktionsjahr
2005

Kinsey Trailer

 

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